Heimatkalender auf Crashkurs: Der zweite Blick auf den Fall, den wir Unfall nennen

Als Angela Merkel, Bundeskanzlerin, gestern im Bundestag über die Naturgesetze referierte, an deren Gültigkeit nicht einmal die Obrigkeit in der DDR etwas zu ändern vermochte, spielte sie damit auch – ohne es zu wissen – auf eine bemerkenswerte Veröffentlichung in Kleve an, in der das Wirken der universalen Kräfte um uns herum ebenfalls zum Thema wurde.

Es ist die Rede vom Heimatkalender! Das ist eine Publikation, die lange im Ruf stand, ein wenig trutschig zu sein, ein heimattümelndes Kompendium überbordenden hypotaktischen Satzbaus. Doch diese Zeiten sind definitiv vorbei, die soeben erschienene, neue Ausgabe, erstmals unter der Ägide des Klevischen Vereins, bietet dem Leser ein Füllhorn interessanter, spannender, bemerkenswerter und im Übrigen reich illustrierter Geschichten.

Zu den Überraschungen, mit denen der „Kalender für das Klever Land auf das Jahr 2021“ aufwartet, gehört zweifelsohne, dass dort – im Motto zu einem Artikel über Funkleittechnik im Zweiten Weltkrieg – Marquis de Sade zitiert wird (Seite 133, direkt unter einem Ausspruch von Joseph Beuys), was aller Wahrscheinlichkeit nach eine Premiere ist.

Doch es kommt noch besser. Auf den Seiten 179-188 findet sich ein Beitrag des Stadtarchivars Bert Thissen und des ehrenamtlichen Stadtarchivmitarbeiters Hans-Josef van Lier, in dem Aufnahmen von Verkehrsunfällen zu sehen sind, die der Pressefotograf Carl Weinrother in den 1950er- und 1960er-Jahren für die NRZ angefertigt hatte. Sie heben das Druckwerk unvermittelt in den modernen dekonstruktivistischen Diskurs.

Die Serie der Fotos ist bemerkenswert, weil sie einmal mehr eine Entwicklung dokumentiert, die wir heute mehr oder minder klaglos als Begleiterscheinung des modernen Lebens hinnehmen (bei der 3000 tote Menschen pro Jahr schon als „positiver Trend“ gelten und von Lastkraftwagen zerquetschte Radfahrer als zu akzeptierender Kollateralschaden).

Ein Auto zu steuern, diese Empfindung soll uns nicht bewusst werden, ist der Versuch, ein Geschoss zu beherrschen. Die kinetische Energie, die ein auf 120 km/h beschleunigter SUV von 2,5 Tonnen Gewicht entfesselt, entspricht rechnerisch der von drei Handgranaten*.

Kein Verkehrsteilnehmer soll natürlich denken, einer solchen Last ausgesetzt zu sein, weshalb moderne Autos eigentlich nichts anderes sind als eine Ansammlung von Vorkehrungen zur Verschleierung der physikalischen Wahrheit – zu nennen sind Knautschzone, Kopfstützen, Sicherheitsgurte, Spurassistenten, Kindersitze, Bremskraftregulierungssysteme, Nebelschlussleuchten und Einschlafsensoren, und wahrscheinlich gibt es noch zehn oder zwanzig Vorrichtungen mehr.

Das alles aber soll von der Tatsache ablenken, dass der sprachlich als Unfall, also Un-Fall, also das Gegenteil des Falles, bezeichnete Vorgang, bei dem die beschleunigte Bewegung außer Kontrolle gerät, in Wahrheit der „Fall“ ist, also der Normalzustand, von dem sich das geglückte Geschehen abhebt.

Im Buch „Die Geschwindigkeitsfabrik – eine fragmentarische Kulturgeschichte des Autounfalls“ (Matthias Bickenbach/Michael Stolzke) heißt es dazu: „Das Unfallgeschehen ist weder nur ein Vorfall der Vergangenheit, noch der reinen Gegenwart oder der einfachen Zukunft, sondern der Autounfall untersteht der Logik des Futur II: Er wird sich ereignet haben.“

Und weiter: „Der Schrecken, den Unfallbilder zeigen, liegt nicht in der Destruktion des Schönen an sich, sondern vielmehr darin, dass die abgeschnittenen Stücke auf etwas verweisen, dass sich selbst nicht sehen lässt. Es ist die Gewalt der Geschwindigkeit, die sich, von der Maschine erzeugt, in sie selbst wieder eingeschrieben hat. […] Unfallbilder erinnern jedoch daran, dass es die Maschine selbst ist, die ihren Unfall hervorbringt.“

Womit wir bei den 14 Bildern aus dem Heimatkalender angelangt wären, von denen oben zwei exemplarische abgebildet sind. Das eine zeigt einen Unfall aus dem Jahr 1959 mit einem Lastwagen an der Kavarinerstraße. Direkt am Wrack steht eine Gruppe von Schulkindern, die in kindlicher Unschuld den Schaden bestaunen. Nun, nachdem der Verkehr, auf den acht zu geben man sie in der Schule und im Elternhaus vermutlich gelehrt hatte, können sie das Metallgitter, das den verbliebenen sicheren öffentlichen Raum markiert, hinter sich lassen und sich ganz nah an das Fahrzeug wagen, das sonst vielleicht den Tod gebracht hätte. Die eingeschriebene Gewalt der Geschwindigkeit, sie lernen sie zu lesen wie die Buchstaben in einer Fibel.

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut?

Das zweite Bild entstand an der Arntzstraße. Es zeigt ein Moped, welches im Wortsinne unter die Räder gekommen ist, so wie heute auch immer wieder noch Radfahrer. Der Fahrer des Zweirades wurde nur leicht verletzt. Das Markante an diesem Foto aber ist der staunende Passant mit Hut und Aktentasche, der das Trümmerensemble akkurat positioniert von der sicher scheinenden Kante des Bürgersteigs aus beobachtet, so als wäre er selbst nicht Teil des Geschehens – so, wie die 3000 Verkehrstoten pro Jahr auch nicht Teil unseres Lebens sind, zumindest solange nicht, wie es nicht einen Verwandten oder Bekannten trifft.

„Auf den zweiten Blick“, so haben die Autoren ihren Beitrag betitelt, und allein schon dieser zweite Blick auf Unfälle von vor gut einem halben Jahrhundert ist es wert, den Heimatkalender zu kaufen. Aber es ist in diesem Heft bei weitem nicht der einzige.

*Viele Redaktionen haben infolge der Medienkrise ihre Mathematik-Ressorts abgebaut. Anders kleveblog, wo seit jeher Matheleistungskursschüler die gewohnt steilen Thesen des Autors nachrechnen müssen. Also: Die kinetische Energie – 0,5 x Masse x Geschwindigkeit^2 – beträgt bei einem Auto der oben genannten Art rund 1.360.000 Joule. Die Standardhandgranate der Bundeswehr – DM 51 – entfesselt demgegenüber nur 426.000 Joule.

Kalender für das Klever Land auf das Jahr 2021 (71. Jahrgang), 224 S., herausgegeben vom Klevischen Verein für Kultur und Geschichte, erschienen im Aschendorff-Verlag, 14,90 Euro, in allen Klever Buchhandlungen erhältlich

Vieles, was den Zeitzeugen damals nicht aufgefallen sein wird, weil es zu ihrem Alltag gehörte, ist uns heute nicht mehr vertraut und deshalb bemerkenswert

Hans-Josef van Lier/Bert Thissen
Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest
0 Kommentare
Inline Feedbacks
View all comments