Rekonstruktion der Herzogstraße

In Erinnerungen kramen ist hier wörtlich zu verstehen: Maria Bossmann

Als Handwerker im August die Fassade des Wohn- und Geschäftshauses an der Herzogstraße 3 – heute eine Gaststätte – freigelegten, kam unter der Holzverkleidung ein überraschendes Stück Klever Einzelhandelsgeschichte zum Vorschein. Die Fassade war mit zwei Geschäftsnamen bemalt: Die linke Hälfte des Gebäudes war einst der Sitz der „Kauf-Stätte Pfennig“, wie in roten Frakturbuchstaben auf der Wand zu lesen war. In der rechten Hälfte bot der Aufschrift nach C. Rauch Schreibwaren feil. 

Als kleveblog das Foto veröffentlichte und fragte, ob jemand mehr zu dieser weithin unbekannten Vergangenheit des Hauses wisse, meldete sich ein Leser und sagte, der Buchstabe C stehe für Cilly, und bei der im Februar verstorbenen Cilly Rauch handele es sich um eine geborene Hübecker. Sie habe eine Schwester, die Maria Bossmann heiße, die noch lebe und die sicher gerne über die Geschichte des Hauses berichte.

„Das stimmt“, sagt Maria Bossmann. „Ich bin in dem Haus geboren.“ Sie ist heute 91 Jahre alt und lebt in einer Seniorenwohnung an der Hagschen Poort. Beim Besuch hat sie Fotoalben, Familienbücher und alte Dokumente vor sich ausgebreitet, die das Kleve wieder erstehen lassen, das unter der Fassadenverkleidung verborgen war.

Die Großeltern mütterlicherseits von Maria Bossmann hatten das Haus 1914 in der Baulücke eingangs der Herzogstraße errichten lassen. Streng genommen, ist es dem Hausbau sogar zu verdanken, dass Maria Bossmann überhaupt das Licht der Welt erblickte. Denn ihr Großvater hatte damals seine Tochter zu einem Besuch der Schreinerei Hübecker an der Spyckstraße mitgenommen, um Holzarbeiten in Auftrag zu geben. Johanna Loock, genannt Hanneke,  erblickte in dem Betrieb, an einem Klavier übend, einen feschen jungen Mann namens Arnold Hübecker und verliebte sich in ihn. Die beiden heirateten, 1928 kam Maria Bossmann zur Welt.

In den Kindheitstagen von Maria Bossmann betrieb der Großvater im Erdgeschoss links einen Friseursalon, ihre Mutter wiederum hatte ein Hutmachergeschäft, das im Erdgeschoss rechts seinen Platz hatte. Die Großmutter war als Zahnärztin tätig und unterhielt im Haus eine Praxis. „Da stand noch ein Zahnarztstuhl mit einem Bohrer mit Fußantrieb bei uns im Haus“, erinnert sich Bossmann. „Das fanden wir als Kinder immer ganz toll.“

Zu den Kindheitsfreundinnen von Maria Bossmann gehörte eine Hannelore Rütter, deren Eltern als Mieter im dritten Stock wohnten. Der Vater war Katholik, die Mutter Jüdin. Nach der Machtergreifung der Nazis zog die Familie, die Mutter landete im KZ und überlebte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kehrte die Familie noch einmal in die Herzogstraße zurück – um Abschied zu nehmen. „Wir wandern nach Amerika aus“, sagte Hannelore Rütter. 

Aus der Zeit des Nationalsozialismus ist Maria Bossmann noch vieles in Erinnerung, und es ist ihr wichtig, die Erinnerung daran zu bewahren. Als Maria etwa zehn Jahre alt war, hatte das Regime die Menschen jüdischen Glaubens bereits gezwungen, einen gelben Stern an der Kleidung zu tragen. Einmal sah sie einen Träger eines solchen Sterns und wollte ihren Vater darauf aufmerksam machen: „Da läuft ein Jude!“ Es war das einzige Mal, dass sie ihren Vater richtig zornig erlebte: „Das sind genauso Menschen wie du und ich.“ Ihr Vater fiel im Februar 1945 im Krieg. 

Die Herzogstraße 3 war auch das Elternhaus des Klever Künstlers Jupp Brüx. Die Familie lebte in dem Haus in einer Wohnung in der zweiten Etage. Doch an den Maler und Bildhauer, der 1944 in Kleve an Malaria verstarb, hat Maria Bossmann nur eine, ganz spezielle Erinnerungen.

Schon zu Lebzeiten hatte sich der lebensfrohe Künstler mit seinem Tod befasst – und vorhergesagt, dass der Leichenzug es nicht bis zum Klever Friedhof schaffen werde, weil die Gesellschaft zuvor im Lokal „Zu den vier Winden“ einkehre und dort versacke. So ähnlich kam es: Als der Sarg des Künstlers zum Friedhof getragen wurde, erinnert sich Maria Bossmann, gab es einen Fliegeralarm und die Trauergesellschaft musste tatsächlich in der Gaststätte Schutz suchen. 

Marias beste Freundin aus Kindertagen wohnte in einem Haus schräg gegenüber. Sie hieß Hilde Kreikamp; ihre Eltern betrieben ein Spielwarengeschäft, das den meisten Klevern (zumindest etwa bis Jahrgang 1970) noch ein Begriff sein dürfte. Als Maria Bossmann am 1. Mai1953 kirchlich heiratete, machte ein Mitglied der Familie auf der Herzogstraße ein Foto der Hochzeitsgesellschaft. Der Bräutigam Johannes Bossmann trägt Zylinder, im Hintergrund ist der Schriftzug Kreikamp noch zu erkennen – und bei dem ungelenk wirkenden Knirps links im Bild handelt es sich um den späteren Gastwirt Manni Royen.

Anfang der fünfzige Jahre endete auch Maria Bossmanns Zeit in der Herzogstraße. Zunächst zog das junge Ehepaar in eine Wohnung am Opschlag, Anfang der sechziger Jahre – in ein neu gebautes Haus am Kieferneck in Bedburg-Hau.

Bossmanns Schwester Cilly hingegen betrieb in ihrem Elternhaus noch den Schreibwarenhandel, dessen Schriftzug bei den Bauarbeiten im Sommer zutage trat. Ende der fünfziger Jahre gab sie das Geschäft auf, die Immobilie ging an einen auswärtigen Interessenten, der mit der Familie bekannt war. An die benachbarte „Kauf-Stätte Pfennig“ hat Maria Bossmann keine Erinnerung.

Von vielen anderen Geschäften in der Straße ist nicht einmal mehr ein Schriftzug erhalten. Die Straße hatte zwar das Glück, die Bombardements des Zweiten Weltkriegs weitgehend unversehrt zu überstehen, und verströmt immer noch viel architektonischen Charme – auch wenn in einigen der Häuser mittlerweile Daddelhallen und Wettbüros darin heimisch geworden sind.

Als die Herzogstraße noch die Eintrittspforte in die Stadt war, präsentierte sich die Häuserzeile als quirliges Geschäfts- und Vergnügungszentrum: Gleich das erste Haus, heute ein Spielsalon, war etwa Anfang der sechziger Jahre die Blumenhandlung Nizza. Deren Nachbar Siegfried Hebben, der dort eine Imbissbude betrieb. Die Familie ist dem Gewerbe bis heute treu geblieben.

Links im Erdgeschoss von Nummer 3 befand sich in dieser Zeit das Malergeschäft Brunn, dessen Schild „PVC Belag“ links am Eingang ebenfalls noch erhalten geblieben ist. An der Einmündung Grabenstraße kam die Metzgerei Adler, gefolgt vom Lebensmittelgeschäft Korgel, einer Zigarrenhandlung und dem Café Baumann, in welchem gerade einmal für drei Tische Platz war.

In Richtung Ecke Opschlag gab es dann noch den Fahrradhändler Hemsen, den Friseur Ferdi Jansen und das Süßwarengeschäft Hitbrink. Die Hintbrink-Tochter Maria wurde später die Ehefrau des Unternehmers Karl Kisters.  An der Ecke selbst, damals strategisch günstig am Klever Hafen gelegen, firmierte die Spedition Heeck, deren Schriftzug an der Fassade noch zu erkennen ist.

Auf der gegenüberliegenden Seite, so erinnert sich Maria Bossmann, praktizierte ein Tierarzt, außerdem waren dort die Bäckerei Oster, das Lebensmittelgeschäft Uyl, der Zigarrenhändler Vierboom und ein Friseur ansässig. Glamour verströmte das Hotel Europäischer Hof, dessen Verglasung sich zum Teil bis heute erhalten hat.

Am Opschlag betrieb eine resolute Frau van der Steen eine Fahrradwache. Sie sprach mit westfälischem Akzent und ermöglichte es den Klevern für kleines Geld, dort ihre Räder sicher bewacht abzustellen. Wie so viele gute Ideen verschwand auch diese irgendwann in der Versenkung, um heute in den Großstädten wiederbelebt zu werden.

„Wenn ich mal nicht mehr bin“, sagt Maria Bossmann, „gehen all diese Erinnerungen verloren.“ Bis auf den hier niedergeschriebenen, sehr kleinen Ausschnitt eines reichen Lebens, der dann vermutlich in ferner Zukunft zurate gezogen wird, wenn bei der nächsten Renovierung des Hauses die Wärmedämmplatten entfernt werden und eine neue Generation auf die alten Fassadenbeschriftungen stoßen wird.

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jean baptiste

Das ist natürlich einmal eine schöne Layout- Idee, alleine deshalb schon würde es sich lohnen.
Zum 13-Järigen schon jetzt meine herzlichen Glückwünsche.